Manchmal zieht abends Rauchgeruch vom Balkon nebenan herüber, durchs geöffnete Fenster. Ab und an nehmen sie Pakete entgegen, sagen im Vorbeigehen Hallo oder nicken freundlich. Aber obwohl wir gerade in den Großstädten auf engstem Raum leben, in Netzwerken wie nebenan.de organisiert sind und versuchen, umsichtig zu leben, bleibt am Ende oft die Erkenntnis: Ich habe keine Ahnung, wer da eigentlich neben mir wohnt. Vier Episoden aus dem Alltag der Flâneure.
Michael: Vor einigen Jahren bemerkte ich, dass der tägliche Streitlärm um 7 Uhr von nebenan versiegte und niemand mehr mit Windeln gefüllte Mülltüten vor seine Wohnungstür stellte. Neue Nachbarn, halleluja. Ein Ehepaar mittleren Alters, das ab und an sperrige Pakete für mich entgegennahm und seinen Balkon ausladend begrünt. Als ich dann doch mal zur Poststelle musste, eine U-Bahnstation weiter, um eine verpasste Lieferung abzuholen, sagte dort die freundliche Mitarbeiterin: „Das habe ich noch nicht im Lager, erst ab 12 Uhr.“ Oh, ja, verdammt, das stand auf dem Abholschein: „Abholung am Folgetag, nicht jedoch vor 12 Uhr“. Daraufhin die Postangestellte: „Aber ich bringe es nachher mit.“
Ich, verdutzt: „Wie, achso, äh ja, gut, ich komme später wieder.“ Sie: „Nicht nötig, ich bringe es gegen halb eins mit, nach der Schicht.“ Ich, der es absolut nicht checkt, sich halb verarscht fühlt und in einem ungewollt pampigen Ton entgegnet: „Ich verstehe sie nicht, wie mitbringen?“ Sie nimmt ihr Namensschild ab und legt es auf den Thresen, deutet mit dem Zeigefinger auf den darauf zu lesenden Namen: „Ich bin ihre Nachbarin. Seit vier Jahren. Ich bringe das Paket nach Schichtende mit und gebe es ihnen dann.“
Gelächter bei ihren Kollegen und den umstehenden Kunden, während ich mich dafür entschuldige, sie nicht erkannt zu haben und mich peinlich berührt davon mache. Ich bin schlecht mit Gesichtern, gerade denen von Menschen, mit denen ich nicht oft zu tun habe. In den flüchtigen Augenblicken an der Türschwelle, in denen mir Frau Nachbarin ein Paket übergab, konnte ich mir ihr Gesicht nicht einprägen. Und das obwohl ich nicht in einem anonymen Massenbezirk in der City wohne, sondern immerhin weit genug raus, kurz vor Farmsen, um ein ,vorstädtisches Gefühl‘ zu bekommen. Sollte ich meine Nachbarn nicht besser kennen?
Janine: Lange Zeit war die Wohnung nebenan leer, obwohl sie vermietet war. Auf dem Schild klebte kein Name, aber manchmal kam eine quirlige blonde Frau mittleren Alters, grüßte freundlich und verschwand in den kahlen Zimmern. Eines Tages jedoch, da zog ihre Tochter ein. Sie mag kaum älter als 19 gewesen sein, wirkte sehr jung und eher schüchtern, wenn man sich zufällig im Haus begegnete. Vor ihrer Einweihungsparty legte sie als Vorab-Entschuldigung jedem unmittelbaren Nachbarn eine Packung Kekse auf den Fußabtreter. Sie ist also rücksichtsvoll. Rücksichtsvoll und ruhig, dachte ich und wog mich in nachbarschaftlicher Sicherheit.
Eines Abends, seit ihrem Einzug sind ein paar Monate vergangen, lag ich im Bett. Kurz vorm Abrutschen ins Traumzauberland wurde ich plötzlich durch Schreie jäh aus meiner meditativen Trance gerissen. Zuerst waren sie zaghaft und nur spärlich, irgendwann wurden sie lauter und sie gingen in ein seltsames Heulgeräusch über. Meine Ohren taten fast weh, so sehr spitzte ich sie. In meinem Gehirn ratterte es, während es versuchte, diese Töne irgendwo einzuordnen. Mein Körper war in Alarmbereitschaft. Meine Armhaare standen senkrecht und ich stieg aus dem Bett. Je näher ich der Wand kam, die mich von den Schreien trennte, desto lauter wurde das andere Geräusch, was nun hinzukam: ein Klatschen. Schnell, hektisch. Dann wieder das Schreien. Ich bekam Panik. Was passierte da gerade? Ich schnappte nach Luft. Sah mich um. Mein Handy lag auf dem Nachttisch. Zitternd nahm ich es in die Hand.
Ich hab noch nie in meinem Leben die Polizei gerufen. Natürlich zögerte ich. Tat ich das Richtige? Doch dann wurde ich an den Mordfall Kitty Genovese erinnert. Dieses traurige Beispiel von Verantwortungsdiffusion, welches wir im Sozialpsychologie-Studium behandelten. Ich entsperrte das Telefon und wählte die 1, als ich plötzlich stockte. Was war das jetzt? Ich sah auf, trat näher an die Wand heran. Wie in einem schlechten Film presste ich mein Ohr an die kalte Tapete. Doch, da war es! Ein lautes Stöhnen. Das Schreien wurde zu einem Quietschen, das Quietschen formte sich in Worte. „MEHR!“, schrie sie, „SCHNELLER!“ Ich war fassungslos, warf mein Handy wütend zurück. Meine rosafarbene Welt des netten Nachbarmädchens zerbröckelte jäh in hässliche kleine Scherben. So was machte sie also! Mit 19! Ich fühlte mich uralt und prüde, als ich mich fünf Minuten später mit einer Ladung Oropax wieder schlafen legte. Unfassbar, diese Jugend!
Politische Redenschwinger und WG-Fluch
Sven: Klar, ich habe immer wieder in Häusern gewohnt, in denen ich kaum jemanden bis niemanden kannte. Einmal, während meines Studiums, beschlich mich sogar der Gedanke, der Typ, der über mir wohnte, könnte tot sein. Dabei war er kaum älter als ich, schien aber einem ähnlichen Lebensstil zu frönen – nur deutlich ausschweifender. Und dann klang über mehrere Tage immer wieder dieselbe Abfolge von Songs durch die Decke. Offensichtlich hatte sein Plattenspieler eine Repeat-Funktion. Zudem lief das Wasser in der Dusche. Das war nicht nur extrem nervig, sondern auch etwas verstörend. Irgendwann habe ich geklingelt, doch es machte niemand auf. Ich weiß bis heute nicht, was damals in der Wohnung über mir los war. Nur, dass mein Nachbar wieder auftauchte und die Geräuschkulisse verschwand.
Eine andere bekam ich mehrfach während meiner zwei Jahre in Leipzig geboten: Wütendes Stampfen und Gepolter auf den alten Holzstufen, bevor an eine Tür gehämmert wurde, in Kombination mit der gebrüllten Bitte, der Unbekannte dahinter möge endlich die Schnauze halten. Was der meistens umgehend tat. Der, der hämmerte, war mein Nachbar aus der Wohnung nebenan und seine bestimmte Ansprache galt einem Hausbewohner eine Etage tiefer.
Letzterer hatte einen Hang zu lautstarken Tiraden, die eigentlich nur aus absurdem Gemecker und wilden Beschimpfungen von Politikern bestanden. Vorgetragen mit bemerkenswerter Überzeugung und Vehemenz, gern auch am sehr späten Abend. Und zum Leidwesen der Nachbarschaft, wohingegen das vorbeiflanierende Publikum schon mal belustigt stehen blieb und sich eine kleine Menschentraube vor dem Haus bildete. Ich habe keine Ahnung, wie der unzufriedene Nachbar hieß. Einmal habe ich ihn für wenige Sekunden im Treppenhaus gesehen, gehört dafür umso öfter. Nur wirklich verstanden habe ich ihn nie – vor allem nicht inhaltlich. Hätte ich doch nur nachgefragt.
Greta: Mit 30 Jahren in einer WG zu leben – noch vor ein paar Jahren hätte ich es mir nicht vorstellen können. Nun habe ich die 30 geknackt – und lebe in einer Zweier-WG. Ich fühle immer eine Art Rechtfertigungsdrang: „Es ist halt Altona“, „Ich kann mir das allein nicht leisten“, „Ich will nicht nach Barmbek.“ Aber mal ehrlich: Bin ich nicht zu alt, um fernab des Studiums noch in einer Wohngemeinschaft zu leben? Mir Gedanken über Putzpläne zu machen und mir den Pott mit einem zweiten Hintern zu teilen, der nicht der meines Partners oder meiner wahrscheinlich längst überfälligen Kinder ist? Das dachte ich. Bis ich meine Nachbarn traf.
Zwei Etagen über uns wohnt eine zauberhafte kleine Dame mittleren Alters. Sie hinkt ein wenig. Manchmal klopft sie zaghaft ans Fenster; dann, wenn im Rahmen unserer Bestellwut mal wieder ein Paket bei ihr gelandet ist. Neulich habe ich einen blauen Zettel aus dem Briefkasten gefischt. Ihr Name stand darauf, ich freute mich auf eine angenehme Begegnung. *Riiing*. Beim Klingeln bemerkte ich zum ersten Mal, dass auf dem Schild noch ein zweiter Name steht. Ich stiefelte die Treppen hoch und wurde oben von einer etwas grimmig dreinblickenden Frau um die 55 erwartet. „Ich wollte ein Paket abholen.“ – „Ach ja, das hat sicher meine Mitbewohnerin angenommen.“ Huch. Ich schnappe mir das Paket und mache mir auf dem Weg nach unten meine Gedanken. Sind die beiden vielleicht mehr als nur Mitbewohnerinnen? Ist es eine Zweckgemeinschaft aus Geldnot? Sind sie mittlerweile geschieden und möchten einfach nicht allein leben? Und was ist mit Kindern? Oder bin ich bloß eine spießige Ex-Kleinstädterin, die verpasst hat, dass Ü50-Verbindungen die neuen Studenten-WGs sind?
Ich erzähle meiner Mitbewohnerin davon. „Ach, das sind hier nicht die einzigen“, erwidert sie und erzählt von einem Namensvetter unter unseren Nachbarn. Er pflaumt sie manchmal an, weil seine Pakete bei uns ankommen und umgekehrt. Erst neulich landete wieder ein Paket für Frau Meier fälschlicherweise bei Herrn Meier – besser gesagt: bei seinem Mitbewohner.
Wir kommen ins Grübeln über unsere Nachbarn, spinnen Theorien. Außer zwei klassischen Studenten-WGs, die nebeneinander direkt über uns wohnen, fällt uns tatsächlich noch eine „ältere WG“ ein, bestehend aus einer jüngeren Frau, einem Langhaarigen, geschätzt 50 Jahre alt, und einem Mittdreißiger, alle ein bisschen alternativ unterwegs. Wir nennen sie liebevoll „die Kommune“. Vielleicht sind es die steigenden Mietpreise, die ein Alleinwohnen in Großstädten wie Hamburg unmöglich machen. Ja, wahrscheinlich ist die Erklärung plausibel. Vielleicht liegt aber auch ein Fluch auf unserem Haus?
Nach dem dritten Glas Wein auf der Terrasse festigt sich diese Theorie. Ganz sicher, es ist ein nicht zu brechender WG-Fluch. Hier landen die Übriggebliebenen, die Frustrierten, Dauer-Singles, Tinder-Geschädigten und Katzenfrauen in geblümten Bademänteln. „Pass auf, in zwanzig Jahren sitzen wir hier wahrscheinlich immer noch auf der Terrasse“, gluckse ich. „Aber mit ’nem Haufen Katzen“, ergänzt meine Mitbewohnerin. Wir lachen – nicht ohne ein Aufblitzen von Panik in den Augen. Es folgt eine unheilvolle Stille, in der wir beide verstohlen in unsere Weingläser schielen. „Joa …“